Mittwoch, 20. Mai 2015
Die brüchige Demokratie – Eine Abrechnung mit den Parteien und der Gesellschaft
Deutschland im Jahr 2015. Dramatisch niedrige Wahlbeteiligungen, massenhaftes Ausspähen von Daten und brennende Flüchtlingsheime. Ist das wirklich unser Land? Ja, das ist es! Auch wenn uns gebetsmühlenartig eingeredet wird, wie gut es uns geht. Sicher es geht uns verhältnismäßig gut, im Vergleich zum Beispiel zu Griechenland, zur Ukraine oder gar zu Syrien. Aber ist unsere Demokratie auch in einem gesunden Zustand? Da sind leise Zweifel angebracht. Rückblick: Sonntag, der 10. Mai 2015. Bürgerschaftswahlen in Bremen, gespannt warten die Parteien auf die Ergebnisse. Bei Rot-Grün Frustration, bei Schwarz-Gelb und der AfD Jubel. Eine komische Situation. Gleichzeitig verkündet in der ARD der Wahlexperte Jörg Schönenborn, dass nur gut 50% der Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme abgegeben haben. Eigentlich kann sich keine Partei angesichts solch miserabler Beteiligung freuen.

Doch woran liegt das? Politik ist Out, Social Media ist In. Es wird gehatet, getwittert, geliked, gedisst was das Zeug hält. Aber Politik, Demokratie, Gesellschaft? Ne, lass mal kein Bock. Nein so einfach ist es natürlich auch nicht. Wenn man sich die Umfragen der ARD zur Bremen-Wahl anschaut, ergibt sich bei den Nichtwählern folgendes Bild: 67% der Befragten Bremer-Nichtwähler meinen, Politiker verfolgen nur ihre eigenen Interessen. Und auch ganze 46% meinen: „Gehe bewusst nicht zur Wahl, um meine Unzufriedenheit mit der Politik zu zeigen.“ Das kann man im Grunde genommen gut auf ganz Deutschland ummünzen. Wie ist es zu dieser prekären Schieflage gekommen?

Da ist zum Beispiel die Mehrwertsteuererhöhung zum 1. Januar 2007 auf 19%, von der im Wahlkampf 2005 von Union und SPD noch keinerlei Rede war, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Ein glatter Wählerbetrug. Zum anderen ist da die FDP, die immer und immer wieder im Wahlkampf 2009 versprochen hatte, das Steuersystem einfacher und gerechter zu gestalten, es hieß „mehr Netto vom Brutto“. Ein Schuss in den Ofen, wie sich herausstellen sollte. Die FDP entlastete bei den Steuern lediglich die Hoteliers und flog bei der Wahl 2013, ohne auch nur in Ansätzen fortschrittliche und entlastende Steuerpolitik für die Masse der Bevölkerung zu machen, mit Pauken und Trompeten aus dem Bundestag. Diese Schilderungen sind nur ein Auszug davon, warum die Frustration und Abgestumpftheit Hochkonjunktur hat. Die Wähler wurden von allen Parteien enttäuscht. Einige sind zur AfD gewandert, viele bleiben einfach zu Hause. „Mutti Merkel“ holt noch die meisten Stimmen, betreibt allerdings einen Politikstil der die Menschen unterfordert und nicht animiert selber aktiv zu werden. Die SPD wird nicht mehr als die Partei der kleinen Leute gesehen, gerade dass eigene Wählerklientel kritisiert immer noch weite Teile von Schröders Agenda 2010. Sie wirkt für viele schlicht unglaubwürdig. Die FDP, ach die FDP, ist vielleicht nach den jüngsten Ereignissen wieder in Sichtweite der 5%. Und die Grünen? Die sind teilweise spießiger geworden als manche altgediente CDU-Granden. Protestpartei ist die Linkspartei. Ein wenig Kompetenz wird ihr in den Bereichen Soziale Gerechtigkeit und Arbeitsmarktpolitik zugesprochen. Auf europäischer Ebene ist diese Partei derzeit allerdings nicht zu gebrauchen.

Unumgänglich ist die Betrachtung der heutigen Gesellschaft. Manche sprechen von der „Generation Facebook“. Genauso wie es in den 90ern eine „Generation Golf“ gab, was Christian Kracht wunderbar in seinem Roman „Faserland“ ausführt. Die „Generation Golf“ ist eine Konsumgeneration. Man zeigt, wenn man Geld hat. In „Faserland“ heißt es am Anfang des Buches: „Also, ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever. Weil es ein bißchen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war.“ Das lyrische ich hat keinen Hunger mehr auf Scampis, möchte aber anderen zeigen, das es ja liquide ist und bestellt sich eine zweite Portion.

Die heutige Generation ist davon eine Fortsetzung, ich beziehe mich jetzt mal auf die Altersgruppe von 18 bis 35. Sie wurde und wird überschüttet mit einem „Modern-Lifestyle“, der eigentlich kaum mehr zu begreifen ist. Man müsste nur „Apple“ in das Buch hineinarbeiten, es würde in vielerlei Hinsicht gut passen zum Jahr 2015. Morgens in der Bahn: Alle starren auf ihr Smartphone. Mails checken. Whatsapp nachschauen. Nachrichten durchklicken. Hier noch mal eben was posten. Hektik, Hektik, Hektik. Wer geht heute noch raus, mal entspannen in der Natur, an den See. Oder einfach mal Sport machen im Freien, zehn Kilometer joggen, schwimmen oder Rad fahren.

Ich möchte das hier bewusst provokant formulieren. Etwas überspitzt dargestellt, muss diese „Generation Golf +“, wie ich sie hier mal liebevoll nenne, aufwachen und Farbe bekennen. Ein nicht zu übersehender Teil unserer Generation ist unpolitisch, hat keine eigene Meinung, viele gehen nicht wählen. Oftmals fehlt auch einfach die Bildung, durch ein chaotisches Schulsystem wo falsche Prioritäten gesetzt werden, maßgeblich verursacht. Cybermobbing ist so weit verbreitet wie nie. Durch Facebook und Twitter ist dies auch so einfach wie nie zuvor. Dazu kommt ein mediales Niveau, welches teilweise erschreckend ist. Comedian Atze Schröder sagte mal humorvoll treffend: „Dank RTL können die Kinder bald auch ihre Namen furzen und rülpsen.“ Heute heißt es nicht: „Wie stehst du eigentlich zur Ukraine, meinst du die können sich einigen?“. Nein heute heißt es: „Hast du Berlin - Tag & Nacht gesehen?“.

Wollen wir in einer menschlichen, sozialen und fortschrittlichen Demokratie leben, oder wollen wir in einer Ellenbogengesellschaft leben, wo die Arbeit des Einzelnen nur noch geringe Wertschätzung erfährt und der Mensch völlig auf der Strecke bleibt. Schaut man sich heute an, wie viel Menschen an Burnout oder Depressionen leiden, man bekommt den Mund nicht mehr zu. Der „Stern“ hat hierzu in seiner Ausgabe vom 07. Mai „Wege aus der Depression“ als Titel gewählt und detailliert Möglichkeiten aufgeführt aus dieser Misere herauszukommen. Diese Krankheiten greifen derart um sich, verursacht durch massive Zunahme des Drucks am Arbeitsplatz und auch durch die Verhaltensweisen von Medien, gerade auch soziale Medien und deren Nutzern. Wir, die deutsche Gesellschaft, müssen angesichts solcher Tatsachen noch mehr zusammenhalten. Indem wir uns solidarisch zeigen mit Flüchtlingen, auf die Straße gehen wegen der ungeheuren Skandale, wie zum Beispiel die BND-Affäre, oder die Geldverschwendung bei „Stuttgart 21“. Trotz aller Enttäuschung, wir müssen uns auch wie mündige Bürger verhalten. Das heißt wählen gehen und die Demokratie stärken. Und die Politik ihrerseits muss dafür sorgen, dass die Menschen das Gefühl haben ein Teil der Gesellschaft zu sein und nicht nur entlohnt sondern auch belohnt werden, für das was sie tagtäglich leisten. Ich denke da vor allem an Altenpfleger, Krankenschwestern, Verkäuferinnen und Menschen die im Dienstleistungssektor tätig sind.

Internetaktivist Sascha Lobo formulierte in seiner Kolumne „Merkel und die NSA: Zerstörtes Vertrauen“ vom 20. Mai bei Spiegel Online folgenden Satz: „Schon immer gab es Leute, die ohne tiefere Kenntnis der Materie "denen da oben" nichts glaubten. Ein paar davon verträgt eine Demokratie. Aber wenn man mit tieferer Kenntnis der Materie nichts mehr glauben möchte, dann läuft etwas sehr, sehr falsch. Und zwar egal, ob man konservative oder progressive Positionen vertritt.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

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