Sonntag, 15. Juni 2014
Brasilien - Zwischen Crack und Karneval
Was für ein wundervolles Land. Zuckerhut, Copacabana, tolle Tänzerinnen, Karneval und der Amazonas. Ein unglaublich großes und vielfältiges Land, dieses Brasilien. Gerade zu ideal um dort die Fußballweltmeisterschaft 2014 auszurichten. Der „Stern“ vom 12. Juni titelt „Brasilien Fußball, Sex und Samba – das Land hinter dem Klischee“. Brasilien ist ein weltoffenes Land. Die Menschen sind herzlich, hilfsbereit und zuvorkommend. In diesem fußballverrücktem Staat, wo am Strand gekickt wird, Stars wie Ronaldo, Pelé oder Neymar herkommen gibt es Parallelwelten. Viele der gut 190 Millionen Einwohner Brasiliens leben in Armut. Korruption und Drogenhandel sind allgegenwärtig. Die Menschen gehen seit Monaten auf die Straße und demonstrieren gegen die hohen Ausgaben für die Fußball-WM. Das Geld solle lieber in Bildung und Infrastruktur gesteckt werden.

In der „Bild am Sonntag“ vom 01. Juni ist ein wunderbarer Artikel zur Lage des Landes erschienen. „BamS“-Reporter Reinhard Keck verbrachte eine Nacht in Rio de Janeiro. Dort wird beschrieben, dass sich nur 48% der Menschen richtig freuen auf die WM, 2008 waren es noch 79%. Die 20-Jährige Brasilianerin Sophia beschreibt: „Alles schaut auf die WM, aber die wahren sozialen Probleme werden völlig vergessen.“ In Rio im Maracanã-Stadion wird das Finale der WM stattfinden. Dort fährt Reporter Keck mit seinem Team in die Favelas Jacarezinho und Santa Marta. Eine erschreckende Schilderung. Jacarezinho wird nur „Crackland“ genannt. Millionen sind süchtig nach der Droge, es wird sogar schon von einer Epidemie geredet. Jugendliche sitzen verarmt am Straßenrand, Ihre Augen glitzern, die Crackkristalle knistern in den Bechern. Was ein Elend. Schießereien und Überfälle sind hier an der Tagesordnung. Keck beschreibt am Ende seiner nächtlichen Rundtour: „Viel Schönes habe ich in dieser Nacht nicht gesehen. Nun schaue ich zum Zuckerhut und sehe wieder diese Postkarten-Idylle. Was für ein Kontrast.“ Aber die Brasilianerinnen und Brasilianer sind auch Partyvolk, sie tanzen in den Clubs die Nacht lang durch, alle sind gut gelaunt, es wird probiert die sozialen Probleme „wegzutanzen“.

Was ist das für eine Regierung, die soviel Geld für die Stadien ausgibt, wie bei der WM 2006 in Deutschland und 2010 in Südafrika zusammen? Was ist die FIFA für ein Weltverband, der menschenunwürdige Zustände auf den Stadionbaustellen zulässt und billigend Todesfälle in Kauf nimmt, sowohl in Brasilien als auch in Katar? Die Gier hat Überhand genommen. Profite werden über Menschenleben gestellt, die hässliche Seite des Kapitalismus zeigt Ihre Fratze. Die Kernthemen werden außer Acht gelassen, Bildung ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Wirtschaft, geringe Arbeitslosigkeit und weniger soziale Spannungen. Das „Normalvolk“ kann sich teilweise keine Busfahrkarte mehr leisten und die Polizei geht massiv mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Gummigeschossen gegen Demonstranten vor. Die WM muss als Chance gesehen werden, als Chance die Lebensverhältnisse der Menschen nachhaltig zu verbessern, als Signal im Kampf gegen die Kriminalität und die Korruption. Wachen Sie auf Frau Rousseff!!!

Auch der „Spiegel“ titelte am 12. Mai: „Tod und Spiele – Brasilien vor der Fußball-WM“. Auf Seite 74 heißt es „Eigentor Brasilien“. Es wird die Vetternwirtschaft beschrieben, die explodierenden Preise und die enorme Ungleichheit bei der Einkommensverteilung. Der „Spiegel“ stellt hier eine Grafik dar, die zeigt, dass die Masse, also 54% der Bevölkerung, ein Einkommen zwischen 320 und 1120 Real hat, umgerechnet zwischen 112 und 390€. Jens Glüsing beschreibt in seinem Artikel: „Das Nachsehen beim Wirtschaftsboom der Lula-Jahre hatte die Mittelschicht. Sie musste Abgaben zahlen, doch die Gegenleistung blieb aus: Schulen und Krankenhäuser verfallen, Privatautos verstopfen die Straßen in den Städten – es gibt zu wenig Busse und Bahnen. Zwei Drittel der Haushalte sind nicht an die Kanalisation angeschlossen.“ Hinzu kommen steigende Mieten wie in Rio, wo sie sich innerhalb von ein paar Jahren verdreifacht haben! In dem Land zwischen Regenwald und Zuckerhut läuft ohne Bestechungsgelder gar nichts.

So traurig dies alles sein mag, die Welt und Brasilien selbst muss vor allem begreifen, dass es so nicht weitergehen kann und darf. Reformen müssen her, die Wirtschaft darf nicht weiter stagnieren. Wir möchten alle eine friedliche WM, mit Toren, Tränen und Titeln. Mit toller Stimmung und vielfältigen Kulturen. Aber wir dürfen die sozialen Probleme des Landes nicht ins Hintertreffen geraten lassen, es muss zum Thema gemacht werden, auch und gerade von den deutschen Fußballgrößen wie Oliver Kahn, Franz Beckenbauer und Günter Netzer. Vielleicht wird die WM der Wendepunkt, ich gönne es den Menschen dort. Boa sorte Brasil!

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